Kaugummiautomaten sind aus der Wahrnehmung vieler Menschen verschwunden.
Dabei hängen sie häufig noch genau dort, wo wir sie als Kinder zurückgelassen haben.
Von Dominik Drutschmann
Seien wir ehrlich: Die Welt durch Kinderaugen zu betrachten, klingt toll, ist es aber nur bedingt. Kinderaugen würden am liebsten den ganzen Tag Paw Patrol glotzen. Verbieten wir es ihnen, schauen sie sich zur Strafe unsere schlechten Eigenschaften ab. Manchmal aber eröffnet das kindliche Auge doch den Zugang zu einer Welt, die wir Erwachsenen vor langer Zeit zurückgelassen haben. Eine Welt so fantastisch wie Peter Pans Nimmerland. Durch die Augen der Kinder dürfen auch Erwachsene noch einmal zurückblicken. Das kann schön sein. Oder es macht wehmütig. Manchmal sogar beides.
Die Sichtbarkeit der Dinge ist immer auch eine Frage der Perspektive. Und so ist es der Blick jener Mitmenschen unter 1,20 Meter, der die Dinge wieder ins Sichtfeld rückt. Eines dieser Dinge, die jedes Kind sieht, aber kaum ein Erwachsener, ist der Kaugummiautomat. Diese roten Kästen, häufig vergittert, mechanisch, die besten Jahre hinter sich, so scheint es. Relikt aus einer anderen Zeit. Einer Zeit ohne 24-Stunden-Tankstelle; in der die Supermärkte nicht bis 22 Uhr geöffnet hatten; die Betreiberinnen von Kiosken noch zu humanen Zeiten Feierabend gemacht haben. Eine Zeit, die wir uns kaum noch vorstellen können. Obwohl wir doch dabei waren.
Kaugummiautomaten – das klingt nach alter Bundesrepublik. Nach Adenauer und Autowaschen am Samstag. Im Wirtschaftswunderland der Fünfzigerjahre hatte man einen Groschen über. Bis in die Achtzigerjahre gehörten sie in jeden Vorort, der eine befestigte Straße hatte. Auch nach Mauenheim, den kleinsten Stadtteil Kölns. Von dort kommt ein Mann, der als Kind schon Kaugummiautomaten „bearbeitete“ und das – in gewissem Sinne – bis heute tut. Paul Brühl, 71 Jahre alt, ist Geschäftsführer beim VAFA, dem Verband Automaten-Fachaufsteller e.V. Das Geschäft mit Automaten, es liegt bei den Brühls in der Familie. Doch wie bei so vielen Familienangelegenheiten ist auch diese Geschichte keine ganz einfache.
Denn beruflich wollte Brühl eigentlich nichts mit Automaten zu tun haben. Sein Vater war Süßwarenvertreter bei Stollwerck, eben jener Kölner Firma, die 1887 den ersten Automaten – gefüllt mit Schokolade – aufstellte. Bis Ende der 1890er Jahre waren es etwa 15.000, allein 4.000 davon an New Yorker Bahnhöfen. In Deutschland endete die Zeit der Kaugummiautomaten vorerst durch die Nazis. „Bis auf Kondomautomaten hat der Bekloppte alle Automaten einschmelzen und zu Munition verarbeiten lassen“, sagt Brühl. Aber eine so großartige Idee wie der Kaugummiautomat lässt sich nicht von einem so kleinen Mann wie Adolf Hitler aufhalten.
Im Supermarkt musste man nörgeln
Brühls Vater machte in den Fünfziger- und Sechzigerjahren Karriere. Er verdiente auch an seinem Sohn. Der schmiss die 50 Pfennig Taschengeld (im Monat) verlässlich in den Kaugummiautomaten um die Ecke. Und das, obwohl Brühl, der Sohn eines Süßigkeitenvertreters, an der Quelle saß. Warum also das schmale Taschengeld für etwas ausgeben, das sich im elterlichen Keller stapelt? Für Brühl ist es das Erlebnis, der Kauf der Süßigkeit als Abenteuer. Und daran hat sich über die Jahre nicht viel geändert. In einer Zeit, in der wir alles immer und überall mit dem Handy bestellen können, wohnt der Interaktion mit den Kaugummiautomaten ein gewisser Zauber inne. Eine analoge Bastion der Unberechenbarkeit in einer durchdigitalisierten Welt der vermeintlichen Gewissheit. Münze rein, drehen, hoffen. Kommt heraus, was ich wollte? Vielleicht sogar ein Kaugummi mehr? Welche Farbe?
Ein Abenteuer, das man allein bewältigte. Im Supermarkt musste man nörgeln, um etwas Süßes zu bekommen. Am Automaten war man der Chef. In den Neunzigerjahren im Ruhrgebiet gehörten sie – neben den Kiosken – zum engmaschigen Netz, um meine damalige Süßigkeitensucht zu befriedigen. Ich glaube nicht, dass meine Eltern wussten, wie viel Groschen ich in den Dingern versenkte. Und das war toll. Eine Art Abnabelungsprozess. Der Kaugummiautomat war immer aufs Kind ausgerichtet, nicht auf Erwachsene. Eine ungewöhnliche Perspektive im öffentlichen Raum. „Kinder merken sehr schnell, ob sich Betreiber Mühe mit den Automaten geben“, sagt Brühl.